Stringente Kampagnen sind wie Sachbuchkonzepte – und umgekehrt. Am Beispiel „Cancel Culture“

(sel) am 22.04.2021. Am Ende gibt es keinen großen Unterschied zwischen der Ausarbeitung relevanter Kampagnenthemen und von Aufsehen erregenden Sachbüchern. Beide, das Sachbuch wie das Kampaigning-Konzept, sind streng genommen ja sowieso nur Ableitungen. Und beide leben davon, dass es fachlich gelingt, ein relevantes Thema gut zu verkaufen. Manchmal ist es sogar so, dass die Auswahl des passenden Themas allein reicht, die Umsetzung danach muss nicht einmal picobello sein oder bei jedem und jeder rundum gut ankommen. Allein, sich zu trauen, ein wie immer geartetes heißes Eisen überhaupt anzupacken, kann schon jede Menge gesellschaftliche Rezeption in Gang setzen. Da müssen am Ende weder die Kampagne noch das Buch immer durchweg 1:1 den Geschmack der Zielgruppe oder der Leserschaft treffen.

Im Solibro-Verlag ist zum Beispiel unlängst das Sachbuch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ von Kolja Zydatiss erschienen. Ich als neuerlicher Leser des Werks bin gar nicht mal durchweg begeistert. Vieles ist aus meiner Sicht etwas erwartbar aufgeschrieben – wenn man das Thema etwa (wie ich) schon länger gut kennt und sich über Lektüre damit auseinandergesetzt hat. Andere, die in der Debatte noch nicht so drinstecken, werden durch den Autor Zydatiss über viele Beispiele und Belege aber zumindest erst einmal sehr gut informiert, worum es überhaupt geht, in dieser Frage, die von den USA aus auch langsam in unserer Gesellschaft angekommen ist. Und wo die Antwort auf diese große Frage innerhalb unserer Gesellschaft - für uns alle und die Zukunft der Diskussionskultur - an sich noch sehr, sehr relevant sein wird. Hier liegen Zydatiss und der Solibro-Verlag meiner Meinung nach also goldrichtig, und das ist ja schon einmal die halbe Miete für ein erfolgreiches Buch.

Denn „Cancel Culture“ berührt ein unheimlich wichtiges Thema auch für unsere deutsche Gesellschaft – finde ich, finden viele. Auch wenn das oft nicht so offen ausgesprochen wird. „Cancel Culture“ – bei großen wie bei kleinen Themen - ist der Elefant im Raum, den am Ende alle sehen, aber wo keiner drüber reden will. Vor allem im Porzellanladen des eigenen Milieus, aber damit schließlich am Ende auch in unserer ganzen Gesellschaft und ihrer Debattenkultur.

Eigentlich müsste man gegen Cancel Culture also nicht nur ein Buch, eine Streitschrift schreiben (was Zydatiss ja lobenswerterweise getan hat), sondern auch eine Kampagne erfinden – eine Kampagne für die individuell wahrgenommene Meinungsfreiheit, den fruchtbaren Streit, den offenen Diskurs, für die Argumente der anderen.

Denn bei uns herrscht meiner - sehr eindeutigen - Meinung nach zwar einerseits vollkommen unbestreitbar zweifelsfrei Meinungsfreiheit, sowohl juristisch betrachtet als auch von der hohen und niederen Politik stellvertretend für uns alle im Großen und Ganzen recht gut vertreten. Die Demokratie als solche ist also erst einmal - so gesehen - keineswegs in Gefahr. Hier irrt Zydatiss wohl schon im Titel seines Buches – interessanterweise in etwa genauso wie die ganzen Schwurbler, die immer gleich "Merkel-" oder "Meinungsdiktatur" schreien, wenn ihnen irgendetwas nicht passt. 

In bestimmten Milieus und Filterblasen sieht es mit der Meinungsfreiheit (ähnlich wie mit der so genannten inneren Pressefreiheit) allerdings schon ganz anders aus.

Hier beginnt der Verdienst des Autors, und deshalb hat es sich auf jeden Fall also schon gelohnt, dieses Buch zu schreiben. Denn es könnte und sollte eine Debatte weiter anstoßen, die sich im Moment eher im Kreis dreht und im sturen Lagerdenken „rechter“ und „konservativer“ Kreise genauso versandet wie bei „linken“, „linksgrünen“ oder „woken“ Milieus. Denn in Sachen der Freiheit der Meinung, die nicht die Bestätigung der eigenen Sichtweise ist: sind die alle – und damit oft wir alle - manchmal nicht so gut.

Der meiner Auffassung nach vielleicht nicht schönste, aber inhaltlich beste Satz im Buch von Zydatiss berührt daher den Kern der Sache, völlig egal, wie man zu einem Autor stehen mag, der auch für die "Achse des Guten" schreibt, also selbst einer Art bestimmtem Meinungsmilieu angehört, wo nicht allen gleich zugehört wird:

„Eine ‚Meinungsfreiheit‘, bei der die Bürger nur noch in irgendwelchen Echokammern und Filterblasen ihre Meinung sagen können, bedeutet das Ende des öffentlichen Austausches von Idee und Argumenten, und damit letztlich eine Verarmung des demokratischen Lebens.“ 

 Ganz recht, Herr Zydatiss, ganz recht, Solibro-Verlag aus Münster. Darauf und daraus, aus dieser Erkenntnis allein, ließe sich eine ganze Kampagne stricken. Daher viel Erfolg mit dem Buch. Und, siehe da: eine Kampagne gibt es ja sogar auch schon zum Thema. Der Autor Zydatiss hängt mit drin. Wir werden sehen.

 Zydatiss, Kolja: „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“, Solibro-Verlag, Münster 2021, Paperback, 184 S., € 16,80, ISBN 978-3960790860 
"Cancel Culture: Demokratie in Gefahr" von Kolja Zydatiss, Solibro-Verlag, Münster 2021

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