Ein Jahr Kampagne: Was wird aus den gilets jaunes, den Gelbwesten Frankreichs?
(sel) am 17.11.2019. Vor gut einem Jahr startete die so genannte Bewegung der Gelbwesten, initial überwiegend in Frankreichs Provinz, in den Departements abseits der Metropolen. Ursprünglich ein Protest gegen über eine Ökosteuer erhöhte Kraftstoffpreise (die v. a. Pendler vom Land trafen), entwickelten sich die Gelbwesten ("gilets jaunes") schnell zu einer breiten landesweiten Bewegung gegen neoliberale und elitäre Politik, die Städter gegen Landbewohner ausspielt, allgemein gegen die Macht in Paris und als Ausdruck der Unzufriedenheit über mangelnde soziale Gerechtigkeit in Frankreich insgesamt.
Wie bei den meisten französischen Widerstandsbewegungen traditionell üblich, gingen die Gelbwesten nicht zimperlich vor (die französischen Sicherheitskräfte allerdings auch nicht): Aus besetzten Kreisverkehren (aus denen in Frankreich so gut wie jede Kreuzung besteht) wurden schnell harte Konflikte mit Verkehrsteilnehmern und Gendarmerie, wenn die Gelbwesten nach Paris zogen: gab es jede Menge brennende Mülltonnen und Autos, beschädigte Monumente (etwa: Arc de Triomphe), kaputte Edelboutiquen-Schaufenster und verletzte Polizisten wie Demonstranten.
Auch innerhalb der Bewegung selbst gab es jede Menge Streit: um die Vereinnahmung durch die Rechtsnationalen vom RN (rassemblement national, früher: Front National, FN) und deren Führerin Marine Le Pen oder auch darum, ob die gilets jaunes selbst Verantwortung übernehmen sollten, eine Partei gründen und bestimmte Personen - etwa Ingrid Levavasseur - zum Beispiel zur Europawahl 2019 antreten lassen sollten. Vieles endete in Chaos, Streit und Verwirrung, die Zustimmungsraten zur Bewegung (anfangs 70% aller Franzosen!) sanken mit zunehmenden Unstimmigkeiten und durch mehr öffentlich sichtbare Gewalt, etwa auf den Champs Elysees in Paris.
Die französischen Gelbwesten sind ein gutes Beispiel für eine äußerst wirkungsvolle Kampagne mit internationaler Ausstrahlung, ganz konkretem Aufzeigen von offensichtlichen gesellschaftlichen Widersprüchen und damit ikonischem Wert bis hin zum Symbol der Gelbweste an sich, bei der der Ausgang für die Nation und für die Gesellschaft bislang allerdings vollkommen unklar ist.
Nach einem Jahr Kampagne und Bewegung sowie höchstmöglicher Aufmerksamkeit ist immer noch im Ungefähren, ob sich das - auf seine Weise - auch engagierte, aber elitäre und städtische Macron-Frankreich auf die mindestens ebenso engagierte, aber ländlich geprägte Gelbwesten-Bewegung überhaupt einlassen wird. Oder umgekehrt. Darüber könnte sich entscheiden, ob Frankreich (wie die USA) am Ende als überwiegend gespaltenes Land endet, zusätzlich auch noch mit einer starken und in sich heterogenen Parallelgesellschaft ausgestattet (vielen Migranten bzw. vielen migrantisch geprägten Franzosen), die sich hier oft weder für die eine noch für die andere Seite entscheiden und wohl auch nicht entscheiden werden.
Auf jeden Fall, mag auch die Bewegung der gilets jaunes nun nach einem Jahr etwas zum Erliegen gekommen sein: haben sie den Finger in offene Wunden gelegt, weiterhin völlig ungeklärte Fragen aufgeworfen hinsichtlich der Zukunft einer friedlichen Koexistenz zwischen französischen Städtern und Provinzlern, zwischen Arm und Reich.
Die Gelbwesten sind (oder waren?) eine Kampagne, die auf jeden Fall eines Tages in den Geschichtsbüchern stehen wird.
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